Der unverstandene Orgasmus
Was ist ein Orgasmus? Wie vertiefst du deine orgastischen Zustände? Und was hat deine Orgasmus-Fähigkeit mit Hingabe zu tun?
Einleitend möchte ich betonen: Es gibt keine „richtige“ Sexualität, nicht die richtige sexuelle Praktik und auch nicht den „richtigen“ Orgasmus. Die Art und Weise wie Sexualität gelebt und praktiziert wird, ist immer auch eine Frage der kulturellen Prägung und der gesellschaftlichen Normen. Dennoch empfehle ich genauer hinzusehen und zu prüfen, welche orgastischen Möglichkeiten dir zur Verfügung stehen, ob du sie bereits nutzt und ob sich ein Blick über den bestehenden Tellerrand deiner Körperwahrnehmungen lohnen könnte.
Ziele von Sexualität und Orgasmus
Meiner Erfahrung nach kann Sexualität und Orgasmus der Fortpflanzung dienen, deine Lebenskraft steigern und dir spirituelles Wachstum ermöglichen.
Wenn Du Deinen Orgasmus nur als Reflex erlebst, also als Entladung, dann kann dir deine Sexualität zur Fortpflanzung dienen. Du folgst dem Drang der Ausschüttung deiner Sexualhormone, danach fühlst du dich müde, entspannt.
In einer ausgewogenen Sexualität, die auch zur Steigerung der Lebenskraft dient, ist diese materielle und energetische Entladung kein Muss. Sexuelle Lust kann zu höheren Erlebniszuständen aufgebaut werden, die deinem Körper und Geist dienen. Deine Sexualenergie wird dabei in höhere Ebenen gelenkt und erfüllt dich ganzheitlich.
Da dein sexuelles Leben nur über einen vergleichsweise kurzen Zeitraum dem Kinderzeugen dient, macht es durchaus Sinn, sich über die weiterführenden Funktionen deiner Sexualität und deines Orgasmus Gedanken zu machen.
Ganzheitlicher Orgasmus versus Entladungsreflex
Bei einem Orgasmus ist das hirnphysiologische Ereignis des „Orgasmus im Kopf“ von den reinen Genitalreflexen zu unterscheiden. Der Orgasmus im Kopf ist sehr wichtig, da er das Gehirn immer wieder auf einen gesunden Ausgangszustand bringt und damit von Ballast befreit. Du kannst das mit einem Neustart deines Computers vergleichen. Ein Orgasmus, der auch deinen Kopf erreicht, sorgt damit für dein körperlich-seelisches Wohlbefinden und deine psychische Gesundheit.
Die Ejakulation des Mannes und die organische Kontraktion im Becken der Frau decken nur die Minimalfunktionen der dem Menschen möglichen orgastischen Fähigkeiten ab. Die Genitalorgane absolvieren ihr Soll, aber der Orgasmus im Kopf ist noch in weiter Ferne. Das klingt bitter und das ist es auch. Denn mit den herkömmlichen Sexualpraktiken ist dein orgastisches Potential noch lange nicht ausgeschöpft. In diesem Zusammenhang ist es auch besonders wichtig für Männer zu wissen, dass eine Ejakulation nicht gleichzusetzen ist mit einem Orgasmus. Es handelt sich ausschließlich um die reflexartige Entladung des Spermas. Letzteres wird eher als Klimax anstelle von Orgasmus bezeichnet.
Auch bei der konventionellen Selbstbefriedigung passiert oft weiter nichts als Entladung. Die Sexualorgane reagieren mit einem Entladungsreflex und im Anschluss bist du müder als vorher. Nicht selten wird Masturbation demzufolge auch gerne zum Einschlafen benutzt. Das kann in vielen Situationen sinnvoll sein. Möchtest du aber deine Vitalität, Lebensfreude und Liebesfähigkeit steigern, dann solltest du dich für die notwendigen Rahmenbedingungen für Ekstase und sexuelle Trance interessieren.
Das Programmdenken: „Wie löse ich möglichst schnell meinen Entladungsreflex aus?“ führt dazu, dass wir unsere Fähigkeit sexuelle Energie im Körper zu halten, zu steigern und zu erleben immer weiter reduzieren. Jeder innere Spannungszustand wird sofort zur Entladung gebracht, anstelle die Kapazität zu erweitern, sexuelle Spannung im Körper zu halten, zu genießen und in unglaubliche Trancezustände auszudehnen.
Orgasmus im Kopf als Reset im Hirn
Bei einem Orgasmus im Kopf werden dir im Moment des Orgasmus oder auch für einige Minuten danach die „Lichter ausgehen“. Du hast das Gefühl fast bewusstlos zu werden und gleichzeitig kannst du eine große Kraft in dir spüren. Die Zeit steht still, es kehrt eine große Ruhe und Zufriedenheit ein, die Atmung hält an, denn du bist in Auflösung. Es entstehen Zustände einer großen Verbundenheit, der Zustand des Schwebens, das Gefühl der Einheit mit dem Universum oder die kraftvolle Wahrnehmung eines Urknalls.
Dieser Zusammenbruch des Gehirns führt zur Aussetzung deiner Denkleistung. Endlich bist du voll und ganz im Hier und Jetzt und verbunden mit etwas Größeren. Was das ist, wirst du wissen, sobald du es wirklich erlebt hast. In diesem unwillkürlichen Moment erhältst du Zugang zur spirituellen Seite des Lebens.
Orgasmus-Fähigkeit und Hingabe
Wie gestaltet man den Weg bis hin zum Orgasmus im Kopf? Wie ist es möglich sich in der sexuellen Begegnung mit einem anderen Menschen, in diesen Zustand der Auflösung hineinfallen zu lassen, so das auch das Gehirn loslässt und für kurze Zeit einen chaotischen, gedankenlosen Zustand zulässt.
Es gibt außerhalb von Sexualität und Orgasmus Möglichkeiten diese Zustände zu erleben. Du hast das sicher schon erlebt, zum Beispiel beim Trance Tanzen, bei extremen Sporterfahrungen, bei besonderen Naturerlebnissen, in Meditation, beim Mantra singen oder durch langandauerndes Beten.
Die Frage ist also, wie kann du deine Wahrnehmungsfähigkeit so erweitern, dass die Wahrscheinlichkeit für einen ganzheitlichen Orgasmus und damit für einen außergewöhnlichen Bewusstseinszustand wächst.
Einstudierte, mechanische Programme verhindern den Orgasmus
Meinst denken wir, wir müssten die richtigen Handgriffe benutzen und an der ein oder anderen Stelle auf eine bestimmte Art und Weise Reiben oder Drehen. Man hat uns erzählt wir bräuchten die richten Fantasien, erotische Kleidung, stimulierendes Ambiente oder Musik. Oder es käme auf die Größe und Schönheit unserer Sexualorgane an.
Unsere konventionellen einstudierten Programme verhelfen uns aber nur zum Entladungsreflex und nicht zum einem höheren Orgasmus. Die über Jahrzehnte erarbeitete Erregungskurve wird im Gehirn gespeichert und pauschal in jeder sexuellen Erfahrung abgerufen. Das lässt kaum Raum für neue Erlebnisqualitäten und andersartige Wahrnehmungswelten. Die Sexualität wird langweilig und gleichförmig in der körperlichen Wahrnehmung, bevor sie jemals ihr volle Dimension erreicht hat.
Ein ganzheitlicher Orgasmus ist nicht machbar. Er stellt sich nur unter nicht zielorientierten Voraussetzungen ein. Alle mechanischen Genitalbehandlungen und Stellungswettbewerbe sind ein sicherer Weg, um einen ganzheitlichen Orgasmus zu verhindern. Die Hingabe von Verstand und Körper an den ganzheitlichen Orgasmus kann nur gelingen, wenn du alle Muskeln, die Oberschenkel, den Po und den Beckenboden sowie vor allem den Kopf loslässt. Denn nur auf diese Weise können die unwillkürlichen Bewegungen stattfinden, die der orgastischen Welle Platz machen, um sich bis in den Kopf auszubreiten.
Häufig wird uns viel Aktionismus in der aktuellen Pornokultur vorgespielt und daher assoziieren wir das mit lustvollem Sex. Leider ist das sehr irreführend, denn die orgastischen Prinzipien stehen im absoluten Widerspruch zu dieser Sexualakrobatik.
Begrenzende Sexualmuster
Die Muskulatur loszulassen und in die Langsamkeit zu gehen ist nicht immer leicht zu lernen. Männer können oft ihre Erektion nur durch Muskelanspannung und Geschwindigkeit aufrechterhalten und auch Frauen versuchen oftmals ihre Luststeigerung mit einer engen, angespannten Vagina zu erreichen. Tatsächlich ist das ein begrenzendes Sexualmuster, an das Mann und Frau sich gewöhnt haben ohne jemals von kraftvolleren Herangehensweisen erfahren zu haben.
Den Körper neu zu trainieren ist nicht leicht und erfordert ein bisschen Übung. Aber nur dadurch können höhere orgastische Zustände erlebt werden. Im Grunde benötigst du nur den Mut, die Erregung, die du versuchst mit körperlicher Anspannung festzuhalten, freizulassen. Vielleicht verlierst du vorübergehend einen Teil deiner Erregung, aber sie wird mit einer unbekannten Intensität zurückkehren.
Orgasmus und Selbstwert
Wie steht es um deinen Selbstwert und deine Fähigkeit dich so anzunehmen, wie du bist? Wenn du auf dem Weg zum Orgasmus mit deinem Busen, deiner Penisgröße, deinem Körpergeruch oder deinem Bauch beschäftigst bist, dann wird sich der Zustand der sexuellen Ausgelassenheit und Hingabe schwer einstellen können. Hast du dich schon so weit selbst angenommen, dass du dich selbstvergessen überlassen kannst? Bist du in der Lage dein Bewusstsein nur für deine wunderbaren Körperempfindungen zu reservieren und jeden Selbstzweifel loszulassen?
Wenn du im Einklang mit dir selbst bist und dich voll und ganz wohl fühlst in deiner Haut, wirst du dich selbstvergessen fallenlassen können. Das ist eine wichtige Voraussetzung für das Hineingleiten in einen ganzheitlichen Orgasmus.
Für deine Sexualität ist die Hingabe an deine gesamtkörperlichen Wahrnehmungen und das Entspannen im Beisein einer anderen Person entscheidend. Erschwerend kommt hinzu, dass Sexualität meistens nackt stattfindet. Damit wird in der sexuellen Begegnung das eigene Körperbild stark herausgefordert. Um Orgasmus-fähig zu sein, benötigst du ein schattenloses Körperbild.
Orgasmus und Körperbild
Der entscheidende Zeitraum für die Entwicklung des eigenen Körperbildes ist die Pubertät. Im permanenten Abgleich mit deinem sozialen Erleben werden deine Erfahrungen in Bezug auf den eigenen Körper als positiv, ambivalent oder negativ abgespeichert. Das Selbstbild wird also über die zur Verfügung stehenden Sinneswahrnehmungen im Gehirn verankert. Dazu gehören Riechen, Schmecken, Tasten, Sehen, Hören und Zeitwahrnehmung.
Fühlst du dich normal und wertgeschätzt? Bist du einverstanden mit deinem Aussehen und deinem Fühlen? Ein schattenfreies Körperbild benötigt dein volles Bewusstsein. Du kannst über verschiedene Wege wieder zur vollen Annahme deines Körpers kommen, in dem zu die Sinneswahrnehmungen überschreibst, zum Beispiel über achtsame sinnliche Berührung, sinnliche Selbstliebe-Praktiken, Slow Sex, Sexological Bodywork, Berührungsmeditationen, andere Mediationen, Sport oder gute Ernährung.
Das Ziel Orgasmus verhindert die Entspannung
Wir sind also im höchsten Maße aufgeklärt, haben alle sexuellen Freiheiten und können so vieles ausprobieren und dennoch ist der Sexualakt allzuoft auf ein recht schnelles, zielorientiertes Rein-Raus-Fertig beschränkt. Und dieser sehr verbreitete Sexualstil hält uns erfolgreich von den so heilsamen, verbindenden und gleichzeitig kraftvollen, sexuellen Trancezuständen ab. Der ganzheitliche Orgasmus ist nicht mit „schneller, härter und mehr“ zu erreichen. Wir können den Orgasmus nicht machen, sondern ihn nur einladen, in dem wir ihm die Chance geben sich einzustellen.
Unsere Sexualität ist mit Zielen und Erwartungen überfrachtet. Sich hinzugeben und zu entspannen ist uns schon im Alltag kaum möglich. Gleichzeitig ist ohne Hingabe kein höherer Orgasmus möglich.
Du solltet also deine Wahrnehmungsfähigkeit durch achtsame körperliche Erfahrung so erweitern, dass die Wahrscheinlichkeit für einen ganzheitlichen Orgasmus und damit für außergewöhnliche Bewusstseinszustände wächst. Schaffe dir also selbst die richtigen Rahmenbedingungen für eine achtsame und aufbauende Sexualität.